Verstehen Sie Ihr Recht: ein Blick in die Schweizer Strafprozessordnung

| Nicole Kumli Ryter

In der Strafprozessordnung (StPO) ist das formelle Strafverfahren mittels Gesetzesartikeln seit 2011 schweizweit einheitlich geregelt. Es dient der Wahrheitsfindung nach definierten Kriterien. Das Ziel ist, faire, effiziente und einheitliche Verfahren zu gewährleisten. Das Strafgesetzbuch (StGB) wiederum legt die strafbaren Handlungen und das jeweilige Strafmass fest. 

Ein Blick zurück: Strafverfahren in früheren Zeiten 

Bevor es Gesetze zur Strafprozessordnung gab, verliefen Strafverfahren oft sehr willkürlich und grausam. Aus Literatur und Film kennen viele beispielsweise die Zeit der Inquisition (Mittelalter bis frühe Neuzeit), die für viele Menschen mit Angst, Folter und Ungerechtigkeit verbunden war. 

In dieser Zeit hatte eine beschuldigte Person kaum Rechte. Der Inquisitor, oft zugleich Ankläger und Richter, entschied über Schuld und Strafe. Geständnisse wurden häufig durch Folter erzwungen, und die Unschuldsvermutung – ein heute selbstverständliches Grundprinzip – existierte damals nicht. Das Strafmass konnte extrem sein; von öffentlicher Demütigung wie dem Pranger über Auspeitschung bis hin zur Hinrichtung. Ein faires Verfahren im heutigen Sinn gab es nicht. 

Erst mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert setzte sich langsam die Idee durch, dass auch Beschuldigte Rechte haben. Der Schutz vor Folter, das Recht auf Verteidigung und ein unabhängiges Gericht wurden nach und nach in europäischen Rechtsordnungen aufgenommen und prägen heute moderne Rechtsstaaten wie die Schweiz. 

Die heutige Schweizer Strafprozessordnung zeigt, wie weit sich das Strafrecht seit damals entwickelt hat: Von der Willkür hin zu einem transparenten, rechtsstaatlich geordneten Verfahren. 

Der Ablauf eines Strafverfahrens 

Ein Strafverfahren durchläuft mehrere Phasen: 

  1. Ermittlungsverfahren der Polizei: Klären des Sachverhalts, sammeln von Beweisen/Spuren, Zeugenbefragung. 
  2. Untersuchung: Bei hinreichendem Tatverdacht führt die Staatsanwaltschaft eine formelle Untersuchung durch. 
  3. Anklage/Einstellung/Strafbefehl: Falls genügend Beweise vorliegen, erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage. Andernfalls wird das Verfahren eingestellt. Bei einfacheren Verfahren und geklärtem Sachverhalt gilt der Strafbefehl als Regelverfahren. Nur ungefähr 5 Prozent der Verfahren gelangen effektiv vor Gericht. Siehe auch hier. 
  4.  Hauptverhandlung: Das Gericht prüft und ergänzt allenfalls die Beweise, hört Zeugen und die Plädoyers der Staatsanwaltschaft sowie der Verteidigung an. Der oder die Beschuldigte hat das Recht auf das letzte Wort.
  5. Urteil und Strafe: Das Gericht würdigt alle Beweise und berät sich im Geheimen. Zum Schluss urteilt dieses über Schuld, Unschuld und die Sanktionen. 
  6. Rechtsmittel: Gegen ein Urteil kann Berufung oder Beschwerde eingereicht werden. In diesem Fall wird das Verfahren an einer höheren Instanz wie dem Obergericht oder gar dem Bundesgericht fortgeführt. 

Ein fiktives Beispiel

An einem Samstagabend in der Berner Altstadt schlägt Lukas M. im Streit seinem früheren Freund Kevin S. ins Gesicht. Kevin stürzt und erleidet einen Kieferbruch. Der Sachverhalt deutet auf schwere Körperverletzung nach Art. 122 StGB.  

Eröffnung des Strafverfahrens 

Die Polizei nimmt erste Aussagen auf und meldet den Fall der Staatsanwaltschaft, die ein Strafverfahren eröffnet (Art. 309 StPO). Lukas wird einvernommen, die Beweise – darunter ärztliche Berichte und Zeugenaussagen – werden gesammelt.

Anklage und Gerichtsverfahren 

Nach Abschluss der Ermittlungen erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage. Vor dem Regionalgericht gesteht Lukas die Tat. Das Gericht berücksichtigt seine Reue sowie die Folgen für Kevin und spricht eine bedingte Freiheitsstrafe von 18 Monaten mit Probezeit aus.

Die Rechte der Beschuldigten 

Die StPO garantiert grundlegende Rechte und Pflichten wie zum Beispiel: 

  • Faires Verfahren: Das Verfahren muss fair und gesetzeskonform ablaufen. Art. 3 StPO 
  • Unschuldsvermutung: Die Schuld muss durch die Strafbehörde bewiesen werden. Art. 10 StPO. Davor gilt für alle die Unschuldsvermutung. 
  • Recht auf Verteidigung: Jede/-r Beschuldigte kann einen Anwalt beiziehen. Art. 127 StPO 
  • Aussageverweigerungsrecht: Niemand muss sich selbst belasten «Nemo tenetur». Art. 113 StPO 

Die Rechte der Opfer / geschädigten Personen

Opfer und Geschädigte von Straftaten haben ebenfalls wichtige Rechte (Aufzählung nicht abschliessend) Art. 117 StPO

  • Persönlichkeitsschutz: Möglicher Ausschluss der Öffentlichkeit. 
  • Informationsrechte: Das Recht, über wichtige Verfahrensentscheide informiert zu werden. 
  • Recht auf Begleitung: Das Recht durch eine Vertrauensperson begleitet zu werden. 
  • Beteiligung am Strafverfahren: Das Recht, sich im Strafverfahren als Privatkläger zu beteiligen. 
  • Recht auf Schadenersatz: Das Recht, mittels Zivilverfahren Schadenersatz geltend zu machen. 
  • Minderjährige Opfer haben besondere Schutz- und Beteiligungsrechte, insbesondere bei der Einvernahme und bei der Begegnung mit dem oder der Beschuldigten. 

Fazit 

In Anbetracht der geschichtlichen Entwicklung können wir uns wohl glücklich schätzen, dass heutzutage alle Beteiligten eines Strafverfahrens das Recht auf ein faires Verfahren haben. 

Trotz allen Richtlinien und Gesetzesartikeln verhält es sich jedoch ähnlich wie im Sport. Auch ein Verfahren ist nie vollkommen vor menschlichen Fehlern gefeit. Und wir alle wissen; in der Rechtsprechung wird nie in jedem Fall Gerechtigkeit hergestellt, umso wichtiger ist es, dass Verfahrensabläufe auf einer Grundlage beruhen und sorgfältig sowie transparent geführt werden. 

Kategorien: Blog, News

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