| Chantal Billaud

Wer liebt sie nicht, die Märchen und Mythen, die unsere Kindheit begleiteten und uns oft verzauberten? Einer ganz anderen Kategorie entspringen die sogenannten Vergewaltigungsmythen. Dabei handelt es sich um vorurteilsbehaftete, stereotype oder falsche Annahmen über Vergewaltigung, Täter und Opfer von Vergewaltigung. Vergewaltigungsmythen verharmlosen sexuelle Gewalt, entlasten die Täter und schreiben den Opfern eine Mitschuld zu.

Wie auch bei den Grimm-Märchen haben diese Mythen die Funktion, Unverständliches und Bedrohliches zu rechtfertigen, einzuordnen und so verständlicher und erträglicher zu machen. Im Gegensatz zu den Kindermärchen können Vergewaltigungsmythen jedoch bei den Opfern von sexueller Gewalt enormen Schaden anrichten. Besonders tragisch ist zudem, dass sie nicht nur unter Opfern selbst, sondern auch unter den Menschen verbreitet sind, die Sexualdelikte ahnden, beurteilen und mit Opfern arbeiten.

Vier Vergewaltigungsmythen im Test

Testen Sie sich selbst! Stimmen Sie den folgenden vier Aussagen zu oder nicht?

  1. Die meisten sexuellen Übergriffe passieren oft überfallartig, und zwar draussen in dunklen und einsamen Gegenden.
  2. Eine Frau kann sich wehren, Vergewaltigungen «funktionieren» nur, wenn die Frau auch will.
  3. Bei einer Vergewaltigung kennen sich Täter und Opfer meistens nicht.
  4. Nur Frauen können vergewaltigt werden.

Bei allen vier Aussagen handelt es sich um Mythen. Vielleicht erstaunt es Sie, dass es nach wie vor Menschen gibt, die von der Richtigkeit dieser Aussagen überzeugt sind, obwohl sie längst und x-fach widerlegt sind. Vielleicht aber müssen Sie feststellen, dass Sie bei der einen oder anderen Aussage innerlich zugestimmt haben und deshalb scheinbar nicht so viel über sexuelle Gewalt wissen, wie Sie zu wissen geglaubt haben.

Bei sexuellen Übergriffen kennen sich das Opfer und der Täter in den allermeisten Fällen. Die Opfer von Vergewaltigungen sind in vielen Fällen so überrascht und geschockt, dass sie sich nicht wehren können. Ausserdem kommt es vor, dass sie so verängstigt sind und um ihr Leben fürchten oder die Schmerzen nicht noch vergrössern wollen, dass sie sich entscheiden, sich nicht zu wehren. Selbstredend gilt dies für männliche wie für weibliche Opfer von Vergewaltigungen. Der Mythos 2 basiert folglich auf einer falschen und einer heiklen Annahme. Es ist falsch anzunehmen, dass sich jede und jeder gegen eine Vergewaltigung wehren kann, und es ist heikel anzunehmen, dass fehlender physischer oder verbaler Widerstand automatisch eine Zustimmung bedeutet. Man denke dabei zum Beispiel an Opfer, die unter Medikamenten-, Drogen- oder Alkoholeinfluss stehen.

Auch Fachpersonen glauben Vergewaltigungsmythen

Es ist leider eine Tatsache, dass auch Fachleute aus Polizei, Justiz und sogar aus der Opferberatung solchen Mythen aufsitzen und zwar unabhängig davon, ob sie eine Fachfrau oder ein Fachmann sind. Dass solch‘ irrige Annahmen fatale Folgen für Betroffene haben können, liegt auf der Hand: Das Opfer glaubt, selbst schuld zu sein und hat das Gefühl, dass man ihm nicht glaubt. Als Folge davon, werden im schlimmsten Fall die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen, das Opfer erhält keine adäquate Hilfe und weitere Mythen werden befeuert: Zum Beispiel «Sexuelle Übergriffe sind sehr selten» und «gewisse Frauen tragen eine Mitschuld an ihrer Vergewaltigung». Deshalb ist es umso wichtiger, bei den relevanten Berufsgruppen, aber auch in der breiten Bevölkerung diese Mythen zu entlarven und das Wissen zum Thema Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe zu vergrössern.

Kategorien: Gewalt

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