Glauben Sie nur einer Statistik, die Sie auch selbst verstanden haben
Stellen Sie sich vor, Mark hat sehr günstig ein altes Velo an der Velobörse gekauft, er wollte es aufpeppen, aber es wurde ihm bereits einen Tag nach dem Kauf vor seinem Wohnhaus geklaut. Es war ihm auch kein Trost, dass das fabrikneue E-Bike seines Nachbarn Stefan in derselben Nacht aus dem Kellerabteil gestohlen wurde. Immerhin war sein Verlust kleiner.
Und denken Sie auch an Jessica, die am letzten Wochenende vor einem Club von einer Bande betrunkener Jugendlicher sexuell belästigt wurde, die sich erfolgreich an einen Türsteher wenden konnte, der den fünf jungen Männern sehr deutlich Clubverbot erteilte.
Und verdeutlichen Sie sich drittens folgende Situation: Maja hat sich von ihrem Freund getrennt, aber er scheint es nicht akzeptieren zu wollen. Er ruft sie zigmal pro Tag an, lässt ihr täglich Blumen schicken und schreibt ihr sogar fast täglich Briefe und das schon seit 8 Wochen! Maja ist mit den Nerven am Ende und will dem Stalkingverhalten endlich ein Ende setzen.
Wie haben die vier Personen im Anschluss an das Erlebte reagiert?
Mark hat den Verlust mit ein wenig Ärger zur Kenntnis genommen und sich ein neues Velo an der Börse besorgt.
Stefan hat den Diebstahl über e-police angezeigt und ihn seiner Versicherung gemeldet. Mit dem Versicherungsgeld konnte er sich bereits nach zwei Tagen ein neues E-Bike kaufen.
Jessica hat sich nach der sexuellen Belästigung und Nötigung im Club bei der Opferhilfe ihres Kantons gemeldet und sich erkundigt, was eine Anzeige genau bedeuten würde. Sie wurde gut beraten, hat sich dann aber dennoch entschlossen, keine Anzeige zu erstatten.
Maja hat sich nach zwei Monaten Tortur und steigender Angst entschlossen, ihren Ex-Freund bei ihrer Kantonspolizei anzuzeigen. Sie war dann sehr erstaunt, wenn nicht entsetzt, dass ihr Ex-Freund gar nicht angezeigt werden kann. Es nützte ihr wenig, dass die freundliche Polizistin darauf hingewiesen hat, dass Stalking wohl bald als Straftatbestand aufgenommen werde, es seien politische Bestrebungen diesbezüglich im Gang. Sie hat Maja sogar erklärt, dass sie zivilrechtlich klagen könne, das sei aber deutlich komplizierter.
Was hat das alles denn nun mit Statistik zu tun?
Bei unseren vier Beispielen haben wir es mit vier Übergriffen im weitesten Sinne zu tun. Drei von diesen vier übergriffigen Handlungen werden auch vom Gesetzgeber als übergriffig eingestuft und scheinen somit im Strafgesetzbuch auf und können zur Anzeige gebracht werden. Von den drei Personen, die Opfer einer Straftat wurden, hat aber nur eine bei der Polizei Anzeige erstattet.
Statistisch gesehen muss eine Handlung also erstens von den Betroffenen als subjektiv illegal angesehen werden und zweitens auch objektiv als illegal betrachtet werden und somit im Strafgesetzbuch aufscheinen. Drittens muss die Polizei vom Delikt Kenntnis erlangen, weil eine Anzeige erfolgte und viertens muss die Anzeige so aufgenommen werden, dass sie den Weg zur Justiz nehmen kann. Der vierte Punkt ist dann nicht erfüllt, wenn eine Straftat zum Beispiel verjährt ist oder wenn die ersten Ermittlungen zeigen, dass der Straftatbestand doch nicht erfüllt ist, weil beispielsweise eine Falschanschuldigung vorliegt (was dann eine andere Anzeige wegen Irreführung der Rechtspflege nach sich zieht).
Bei unseren Beispielen hat nur eine der vier Grenzüberschreitungen Zugang in die Statistik gefunden und dies aus unterschiedlichen Gründen. Dass eine Person eine Straftat nicht anzeigt, hat nicht nur mit der Schwere des Delikts zu tun. Gewiss werden wohl oft kleinere Diebstähle oder Beleidigungen nicht angezeigt, weil die Betroffenen sich wenig bis nichts von einer Anzeige versprechen. Umgekehrt kommt es aber auch vor, dass andere Institutionen – wie typischerweise Versicherungen – neu Anzeigen bei z. B. Diebstählen einfordern und deshalb mehr Anzeigen bei Bagatelldelikten erfolgen.
Bei Offizialdelikten – also Delikten, die die Polizei bei Kenntnis von Amtes wegen verfolgen muss, verhält es sich ein wenig anders. Dabei ist nicht das Anzeigeverhalten in der Bevölkerung ausschlaggebend, sondern die Kontrolltätigkeit der Polizei selbst.
Und je nach Kontrollschwerpunkten kann dies die Statistik massiv beeinflussen. Setzt ein Polizeikorps beispielsweise ihren Fokus auf die Bekämpfung von Online-Delikten im Darknet, hat dies in der Regel eine Fülle von Anzeigen zur Folge. Natürlich wären die kriminellen Handlungen auch passiert, wenn die Polizei sie nicht aufgedeckt hätte, aber das erschiene dann in keiner Statistik.
Aber auch schwere Delikte wie Sexualdelikte werden bei weitem nicht immer zur Anzeige gebracht. So genannte Schamdelikte oder auch Vier-Augen-Delikte (ohne Sachbeweise oder Zeugen) kommen oft nicht zur Anzeige, weil die Betroffenen sich schämen und/oder weil sie sich keinen Ermittlungserfolg versprechen. Nicht angezeigte Delikte bilden das so genannte Dunkelfeld der Kriminalität. Das Dunkelfeld kann zwar mit Opferbefragungen erhellt werden, die Delikte «im Dunkeln» werden jedoch von den behördlichen Statistiken nicht erfasst.
Fassen wir zusammen
Damit grenzverletzendes Verhalten Eingang in die polizeiliche Kriminalstatistik findet, muss
- das Verhalten subjektiv als kriminell erfasst werden;
- es auch objektiv – vom Gesetzgeber – als illegal gelten;
- Das Geschehen angezeigt oder von den Strafverfolgungsbehörden geahndet werden und schlussendlich
- polizeilich so ermittelt werden, dass das Geschehene der Justiz zur Beurteilung übergeben werden kann.
Jede kriminelle Handlung, die schlussendlich in die Hände der Justiz übergeben wird, wird nun von den Justizbehörden beurteilt. Die Ergebnisse davon fliessen dann in die so genannte Urteilsstatistik ein. Üblicherweise ist die Anzahl verurteilter Delikte kleiner als die Anzahl angezeigter Delikte.
Wir hoffen also, Sie haben die Polizeiliche Kriminalstatistik nun besser verstanden und wissen, dass darin nur ein Teil resp. ein verzerrtes Bild des kriminellen Geschehens abgebildet wird. Um daraus präventive, politische oder sonstige Massnahmen abzuleiten, muss genau hingeschaut und die Hintergründe der Erfassung immer abgeklärt werden!